wird freundlich begrüßt und ehe er sich's versieht, rammt ihm der Doktor durch das Sakko eine Spritze in den rechten Arm, während ihm die freundliche Schwester bereits einen formidablen Gips am rechten Bein verpasst. Trabman widerspricht vehement und versucht sich der Schwester zu entwinden. Schließlich sei er eigentlich wegen Rückenschmerzen gekommen und ob ihn der Arzt denn nicht mal untersuchen wolle. Hierfür erntet er aber nur Kopfschütteln des Arztes und eine weitere Spritze in die linke Seite, während ihm der Doktor mit leicht herablassendem Tonfall versichert, dass er schließlich wisse, was zu tun sei. Außerdem habe er diese Therapie schon vielfach erfolgreich angewendet.
Was bei einem Arztbesuch als unvorstellbar erscheint, ist in vielen Unternehmen leider gängige Praxis. Dabei ist eine zielgerichtete Organisations- oder Managementdiagnostik weder teuer noch besonders aufwändig. Und auch die häufige Sorge, dass man zu viel Unruhe mit einem solchen Schritt erzeugen würde, stimmt bei einer gut konzipierten und sauber anmoderierten Diagnostik nicht. Dennoch werden aufgrund solcher Befürchtungen und manchmal auch aufgrund von Managementhybris – nach dem Motto: "...mein 'Schema F' hat schon immer funktioniert..."– grundlegende Entscheidungen getroffen, ohne eine Basis dafür zu haben.
Doch was ist mit Diagnostik in diesem Zusammenhang eigentlich gemeint? Nun, allgemein gesprochen bedeutet Diagnostik in diesem Kontext die systematische Analyse der aktuellen Situation und Performance mithilfe geeigneter Methoden und die strukturierte Ableitung von Handlungsfeldern und Maßnahmen. Diese drei hervorgehobenen Begriffe sind es, die die diagnostisch fundierte Entscheidung von einer erfahrungsbasierten Bauchentscheidung unterscheiden.
Diagnostik kann sowohl auf der Ebene des gesamten Unternehmens (Organisationsdiagnostik), der Gruppe (Teamdiagnostik), oder auch bei Einzelpersonen (Individualdiagnostik) ansetzen. Und je nach Betrachtungsebene existieren eine Vielzahl quantitativer oder qualitativer Instrumente; beginnend mit der Sichtung bestehender Daten, standardisierte Fragebögen, Interviews, Workshops, teilnehmende Beobachtung, Rollenspiele, und viele mehr. Die Darstellung des möglichen Instrumentariums würde sicherlich den Rahmen dieses Beitrags sprengen.
Die Ergebniswirkungen von gravierenden Unternehmensentscheidungen gehen immer in die zig Millionen (selbst bei einer Entscheidung über eine einzelne Senior-Management Position). Diagnostische Maßnahmen liegen hingegen in der Regel im fünfstelligen und nur in Ausnahmefällen im sechsstelligen Bereich.
Spart man sich die Diagnostik ganz, oder richtet diese zu eng nur auf sehr ausgewählte Teilbereiche, so läuft man Gefahr in verschiedene Fallen zu laufen:
1. Man löst das falsche Problem
Ein Beispiel. Wir werden beiBridgeBrain häufig angefragt, um bei der Lösung vermeintlicher Kulturprobleme zu unterstützen. Typische Symptome könnten z.B. generell ungute Stimmung oder auch ein zu wenig unternehmerisch agierendes Middle-Management sein. Der Wunsch ist dann häufig ein anderes Mindset zu etablieren und ob wir nicht einen Werteworkshop machen könnten.
In der Diagnostik stellen wir bei solchen Symptomen aber häufig fest, dass die schlechte Stimmung daraus resultiert, dass die Ziele nicht klar sind, oder dass es Unklarheit hinsichtlich der Frage des "Wer macht was?" gibt – sprich Rollen und Aufgaben sind nicht sauber definiert. Und das vermeintlich wenig unternehmerisch agierende Management muss aufgrund der Genehmigungsprozesse drei Leute fragen, um 500€ auszugeben. Die Ursachen liegen in dem Fall also deutlich eher in den Bereichen Strukturen, Prozesse und Ziele, als an der Haltung der Mitarbeiter. Ein Werteworkshop wäre in diesem Fall eher kontraproduktiv gewesen.
2. Jeder will ein anderes Problem lösen
Auch hierfür ein Beispiel. Unternehmenstransformationen werden von neuen CEOs regelmäßig mit der Erarbeitung einer Vision, einer Strategie, oder eines Zukunftsbildes gestartet, ohne dass man sich im Managementteam einig über den Ausgangszustand des Unternehmens oder der Marktanforderungen ist. Dabei besteht die Gefahr, dass die Mitglieder des Managementteams unterschiedliche Annahmen darüber haben, welche Probleme man lösen müsste, so dass man sich dann auch nur schwer auf konsistente Strategien und Maßnahmen verständigen kann.
3. Man übersieht mit zu enger Diagnostik wichtige Teile des Problems
Um diese Falle zu illustrieren, sind Unternehmenskäufe ein interessantes Feld. In der Regel wird bei M&A Transaktionen – ganz im Sinne dieses Artikels – viel Energie in die Diagnostik in Form der Due Diligence gesteckt. Dies geschieht allerdings oftmals mit Fokus auf die rein wirtschaftliche Leistungsfähigkeit oder auch auf steuerliche und rechtliche Fragestellungen.
Gleichzeitig wird eines der größten Assets, das man erwerben möchte – nämlich die Innovationskraft und das Know-how der Mitarbeiter und die Qualität des Managements – im Rahmen der Due Diligence selten systematisch beleuchtet. Auch die HR-DD betrachtet eher Personalrisiken als die Menschen selbst.
Dies führt dann bei einer späteren Integration häufig zu Problemen, wie aktuelle Studien zeigen. Beispielsweise hat Mercer im Jahr 2018 bei 43% aller in der Studie untersuchten M&A-Deals festgestellt, dass es gravierende kulturelle Probleme gab. Und bei 67% der Transaktionen kam es aufgrund kultureller Differenzen zur verspäteten Realisierung der angestrebten Synergien[1]. Trotzdem findet eine Cultural Due Diligence oder auch ein Management Audit in diesem Zusammenhang selten statt.
4. Die Menschen, die Maßnahmen später umsetzen sollen, verstehen das Problem nicht, so dass die Umsetzung stockt.
Ohne Diagnostik ist die Vermittlung der Gründe für Veränderungen deutlich schwieriger. Der Appell zur Veränderung wirkt dann schnell nach Selbstzweck – weil man eben wachsen möchte oder weil man das eben heute so macht. Das gilt vor allem auf organisationaler Ebene. Und schnell ist man beispielsweise bei einer Agilitätsinitiative angekommen und kann dann gar nicht vermitteln, auf welche Frage Agilität nun genau die Antwort ist und was ab Montagmorgen anders sein soll als heute. Daher wird die Umsetzung behindert.
Und was neben der Vermeidung dieser Fallen auch noch ein zentrales Argument ist, warum Diagnostik eine gute Investition darstellt: Diagnostik bedeutet immer auch gleichzeitig Intervention. Insofern trägt die Diagnostik häufig bereits entscheidend zur Lösung der Probleme bei, weil in der Transparenz über die Ursachen die Lösung – nicht immer, aber sehr oft – enthalten ist.
Was dieser Artikel sicherlich nicht beabsichtigt, ist der vielzitierten "Paralyse durch Analyse" den Boden zu bereiten und nun dafür zu plädieren jegliche Entscheidung diagnostisch zu untermauern. Schließlich bedeutet Agilität und Unternehmertum natürlich auch, Entscheidungen unter Unsicherheit zu treffen.
Aber grundsätzlich lassen sich drei Ausgangssituationen benennen, bei denen Diagnostik erforderlich ist:
1. Wenn grundlegende Veränderungen anstehen – z.B. ein Strategiewechsel, ein Unternehmenskauf, viele neue Mitglieder im Managementteam oder die Neubesetzung einer entscheidenden Managementfunktion.
2. Wenn es diffuse Symptome gibt, die darauf schließen lassen, dass Handlungsbedarf besteht, ohne diesen klar beschreiben zu können (z.B. Umsatzstagnation, Mitarbeiterfluktuation, Kundenunzufriedenheit, Reibungen in der Managementebene, etc.).
3. Zur Überprüfung der Wirksamkeit getroffener und umgesetzter Entscheidungen die von grundlegender Bedeutung sind.
Und wenn nach der Diagnostik in diesen Situationen ein Gips erforderlich scheint, dann weiß man auch, warum man ihn braucht und an welches Bein er gehört...
©BridgeBrain | Dr. Thorsten Voigt
Photo by Owen Beard on Unsplash
[1]https://www.mercer.de/newsroom/kulturelle-probleme-bei-ma-transaktionen.html